Sonntag, 30. August 2015 | Deutschland – Bayern, Waging am See | Petra
(available in German language only)
HÖHENRAUSCH
DA FREUT SICH DAS BERGSTEIGERHERZ
Weil es gar so gut läuft, machen wir genau so entspannt und geruhsam weiter wie am vergangenen Wochenende am Chiemsee. Irgendwie fällt es uns ganz leicht, unser chilliges „Lotterleben“ im Truck zu genießen.
Die Wettervorhersage verspricht uns für die kommenden Tage Sonne total. Ideal also, um erneut auf meine geliebte Reiter Alpe zu klettern und ein paar Gipfel zu bezwingen. Solange die letzten Regenwolken noch am Himmel ausharren überbrücken wir die Zeit bis zum angekündigten Wetterhoch mit einem ausgiebigen Saunatag in der Rupertus Therme in Bad Reichenhall. Bei einer Rückenmassage verwandelt Anniko mit ihren magischen Händen unsere Rückenmuskulatur in zartes filetartiges Gewebe. Mal ehrlich, gibt es etwas Schöneres als gepflegten Müßiggang?
Am Mittwoch packen wir wild entschlossen unsere Rucksäcke mit ausreichend Wasser, ordentlich Proviant, warmen Jacken und dem, was wir für eine Übernachtung auf der Neuen Traunsteiner Hütte brauchen werden. Ich bin voller Vorfreude auf unseren Hüttenzauber. Für Win und mich wird es unser „erstes Mal“ sein. Noch nie zuvor haben wir auf einer Berghütte übernachtet. Die Doppelbetten-Kammern sind bei unserer Anfrage bereits ausgebucht, also dürfen wir das Gruppenquartier für acht Personen beziehen (Au weia!).
Bevor wir jedoch an Schlafen denken können, müssen wir erst einmal etwas tun. Vor uns liegen gute drei Stunden und 677 Höhenmeter Aufstieg über den Wachterlsteig zur Neuen Traunsteiner Hütte (1560 m). Wir starten ungewöhnlich spät, erst gegen elf Uhr. Zuvor parken wir unseren Truck bequem und preisgünstig auf dem kleinen, sehr hübschen Campingplatz Simonhof, der ruhig und versteckt unweit des Wachterlsteigs liegt.
Der Aufstieg ist abwechslungsreich und wir sind gut beschäftigt bis wir glücklich an der Neuen Traunsteiner Hütte (1560 m) ankommen. Wir legen eine kurze Rast ein und beziehen unser Quartier, das mich irgendwie an die Schlafsituation der sieben Zwerge erinnert. Mit leichterem Gepäck und kürzeren Hosen geht es nun weiter zu unserem zweiten Etappenziel des Tages, dem Großen Weitschartenkopf (1979 m).
Nach eineinhalb Stunden kontinuierlichen Aufstiegs werden wir von der Bergwelt mit einer überwältigenden Aussicht reich belohnt. Berge, Gipfel und blauer Himmel so weit das Auge reicht – was für ein Anblick! Es ist beinahe windstill. Nur Win und ich und eine einzelne schwarze Alpendohle erleben diesen perfekten Augenblick.
Hier könnte ich ewig sitzen und mich von der Sonne umarmen lassen. Wäre da nicht diese gewisse Unruhe und die Frage, ob wir es gleich jetzt noch rüber auf den Großen Bruder (1876 m) schaffen? Werden wir rechtzeitig wieder auf der Hütte sein, um noch Abendessen zu bekommen? Schade, dass wir doch einem gewissen Zeitplan unterliegen und uns nicht einfach treiben lassen können. Um 19 Uhr ist der Küchenofen auf der Reiter Alpe aus. Was tun?
„Komm wir probieren es“, ermuntere ich Win, nur um etwa 20 Minuten später die Einsicht zu gewinnen, dass wir uns entscheiden müssen. Entweder hungrig ins Matratzenlager oder den Großen Bruder nur mit den Augen erklimmen. Wir winken also dem Gipfel des Großen Bruders wehmütig zu und freuen uns zugleich auf einen leckeren Gemüseeintopf in der Abendsonne auf der Terrasse der Neuen Traunsteiner Hütte, unserem alpinen Nachtquartier.
Glückspilze, die wir sind, haben wir übrigens den geräumigen Schlafraum für uns ganz alleine. Nach einer schnellen Dusche (1 Minute Warmwasser kostet 50 Cent und ein Schild erinnert uns daran, bitte mit Wasser in der wasserarmen Region der Reiter Alpe sparsam umzugehen) und einem Schlummertrunk verkriechen wir uns in unser ordentliches Matratzenlager und fallen in einen wohligen Tiefschlaf. Win in seinen, ich in meinen.

Der nächste Morgen küsst uns um 6.30 Uhr wach. Es ist Donnerstag und uns steht wieder ein großartiger Tag bevor. Nach dem Hüttenfrühstück mit Kaffee, Schwarzbrot und Marmelade wollen wir gleich los mit dem Ziel, heute das Große Häuselhorn (2284 m) zu packen und nach dieser knapp sechststündigen Etappe weitere drei Stunden zu unserem Basislager am Campingplatz Simonhof abzusteigen. Auf geht’s, pack mers!
Die Route zum Großen Häuselhorn ist als schwer (= schwarz) gekennzeichnet und Win und ich sind schon neugierig darauf, wie gut wir sie meistern werden. Bevor es jedoch richtig zur Sache geht, verzaubert uns das sanfte Morgenlicht und der dampfende Tau, der von der Almwiese aufsteigt. Meint es das Universum nicht einfach wahnsinnig gut mit uns?
Es dauert nicht allzu lange, bis wir den Beginn der 724 vor uns liegenden (besser noch: stehenden) Höhenmeter zu spüren bekommen. Es geht eindeutig aufwärts mit uns. Erst steigen wir durch hübsche Latschenkiefergruppen nach oben und schließlich über ein Meer von weißem Felsgestein. Unsere heißgeliebten Trekkingstöcke verstauen wir ganz bald am Rucksack und kraxeln mit Händen und Füßen die steilen Felsabschnitte nach oben, rutschen auf losem Geröll herum und staunen nicht schlecht über unseren „Wanderweg“.
Der Fels ist zwar rau und scharfkantig, lässt sich aber gut greifen und bietet festen Halt für Hände und Bergstiefel. Ob sich die Gämsen, die uns beim Aufstieg beobachteten, wohl köstlich amüsieren über unsere teils ungelenke Kletterakrobatik? Wer weiß, was die gerade für einen Spaß bei unserem Anblick haben.
Der knackige Aufstieg fordert uns. Wir geben alles und reizen unsere alpinen Fähigkeiten voll aus. Kannst Du Dir ungefähr vorstellen, wie glücklich wir sind, als wir endlich das überirdisch schöne Gipfelkreuz keuchend erreichen? Auch hier funktioniert das Belohnungssystem der Berge hervorragend. Unendlich viele Berge und Bergspitzen liegen vor, neben und hinter uns. Runde Gipfel, flache Gipfel, spitze Gipfel, mal mit Schnee, mal ohne.
Ich habe keine Ahnung wie viele Kilometer Fernsicht das sein mögen. Ist mir ehrlich gesagt auch schnurzpiepegal, weil es einfach nur atemberaubend schön ist. Sofort durchströmt mich eine Kraft und Energie, die die Anstrengung der letzten Stunden einfach wegzaubert. Hier ist es ein Kinderspiel so richtig sentimental zu werden. Mir gefällt das 🙂
Ein Stündchen staunen und genießen wir die unendliche Weite und die klare Bergluft. Es ist ein Traum! Es fällt uns nicht ganz leicht, uns wieder von diesem Anblick zu lösen und den Rückweg anzutreten. Langsam bahnen wir unseren Weg nach unten, suchen sicheren Halt, klettern, kraxeln, schrammen am Fels, meckern hin und wieder wie eine Bergziege. Und wir sind total glücklich! Schließlich erbringen wir schier übermenschliche Leistung, so mein Gedanke. Ein anderer Bergwanderer teilt uns beiläufig mit, dass diese Tour einer alpinen Eins entspreche (also praktisch dem alpinen Seepferdchen?!). Ich bin entsetzt, denn für mich fühlt es sich wie eine alpine Zehn an. Egal, wir sind Helden!
Dann kommt uns plötzlich Philipp entgegen, der im strammen Tempo zum Gipfel strömt. Er ist braun gebrannt, hat schlanke, glatte Beine und strotzt vor Vitalität. „Ich bin 70 Jahre alt“, erfahre ich von ihm später. Er gehe etwa ein Mal in der Woche eine ordentliche Bergtour. Ich bin schwer beeindruckt, als er uns so nebenbei erzählt, dass er an einem Tag von unserem Ausgangspunkt Schwarzbachwacht schnurstracks bis hinauf auf das Große Häuselhorn klettert und wieder runter. Das sind etwa 1400 Höhenmeter und 23 Kilometer. Wir brauchen dafür eine Übernachtung! Also ich will mit 70 auch so fit sein wie Philipp und fange gleich heute mit dem Training an!
Etwa eine halbe Stunde bevor Win und ich wieder die Neue Traunsteiner Hütte erreichen, werde ich immer langsamer (ist Bestandteil der heutigen Trainingseinheit). Ich gucke hier und schau da, fotografiere Blümchen und frage mich, ob die Kühe hier oben auch so glücklich sind wie ich. Außerdem vertraue ich darauf, dass Win, der mich nun deutlich abhängt, schon mal mein frisches Weißbier bestellt, damit ich es gleich trinken kann, wenn ich eintrudle. Unser Wasservorrat, den ich höchstpersönlich festgelegt hatte, war dieses Mal nämlich etwas knapp bemessen. Jetzt spüre ich deutlich wie meine Zunge trocken am Gaumen klebt.
Eine kräftige Kaspressknödel-Suppe und ein kühles Weißbier später sind Win und ich dann auch schon weiter auf dem Weg Richtung Basislager mit frischem Wasser im Gepäck. Von Philipp, der uns an der Neuen Traunsteiner Hütte schnell wieder eingeholt hat, verabschieden wir uns wohl wissend, dass er uns auf dem Weg zum Wachterlsteig sicher wieder einholen wird. Jetzt macht er aber erst einmal in aller Ruhe Kaffeepause.
Angefüllt von den schönen Erlebnissen der letzten beiden Tage nähern wir uns Schritt für Schritt unserem Standort am Simonhof. Philipp gesellt sich irgendwann während unseres dreistündigen Abstiegs zu uns und wir plaudern noch angeregt über dieses und jenes. Wir drei sind zufrieden mit unserem Tagespensum (ich bin irrestolz auf mich, wenn ich es genau nehme) und sind froh, bald zu Hause zu sein. Dass Philipp jetzt noch schnell mit seinem Moped gute 40 Kilometer zu seiner Frau nach Hause fährt, sei nur nebenbei erwähnt.
Danke, Philipp, dass wir Dir begegnet sind. Du kannst für viele Menschen und uns ein Vorbild sein. Wir wünschen Dir weiterhin viele schöne Gipfelbesteigungen.
Berg heil!
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